Letztens fragte ich in meiner Story auf Instagram & Facebook einfach mal in die Community, ob und wer sich wie ehrenamtlich engagieren würde. Die Frage hatte sich aus einer anderen Frage ergeben, manchmal ist das ja so. Viele antworteten darauf. Auch Simone. Denn sie hat ihren eigenen Verein gegründet: Walking with Giants Germany e.V.
Und nach nur wenigen erklärenden Sätzen dazu, war klar: Sie hat viel zu erzählen und ich wollte ihr so gerne eine Plattform dafür geben. :)
Simone Braunsdorf-Kremer ist 47 Jahre alt, verheiratet und lebt mit ihrer Familie (bestehend aus 3 Kindern – 2 leibliche Söhne und 1 Bonustochter) im Westerwald. Klassisch berufstätig ist sie schon lange nicht mehr, obwohl sie 24/7 arbeitet. Denn sie ist eine vollzeit pflegende Mama – für ihren jüngeren Sohn. Und “nebenher” schafft sie es irgendwie auch noch, einen Verein zu leiten sowie auf Social Media aufzuklären über Pflege und Inklusion. On top hat sie sich die Zeit genommen, mir ein Interview zu geben, denn ich fand direkt, wir alle sollten Simone und ihren Verein besser kennenlernen! <3
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Liebe Simone, du hast selbst einen Verein gegründet. Und zwar Walking with Giants Germany. Wann war das und viel wichtiger: Was war der Grund dafür?
Der Grund für die Vereinsgründung war die Geburt unseres Sohnes Jonathan. Er wurde 2015 mit einem extrem seltenen Gendefekt geboren: MOPD Typ1, eine Form von PRIMORDIALEM KLEINWUCHS, die stark lebensverkürzend ist. Die Ärzte haben Jonathan 9 Monate Lebenserwartung prognostiziert – in wenigen Wochen wird er 10 Jahre alt. Aber das konnten wir damals nicht wissen. Wir fühlten uns nach der Diagnose komplett allein und überfordert, wussten nicht wirklich was nun zu tun war: welche Ärzte sollten wir aufsuchen? Welche Therapien beginnen? Nach ca. 1,5 Jahren sind wir durch Zufall auf die WALKING WITH GIANTS FOUNDATION in Liverpool gestoßen, eine Organisation, die von Primordialem Kleinwuchs Betroffene aus aller Welt in Kontakt miteinander und dem Forschungsteam bringt. Wir haben im Jahr 2018 an einer Convention in Liverpool teilgenommen und fast 50 betroffene Familien aus aller Welt, sowie das Forschungsteam kennengelernt. Das war eine so unfassbar krasse Erfahrung! Zum ersten Mal haben wir gespürt, dass wir nicht mehr länger allein sind und vor allem: Wir haben Hoffnung gefühlt, dass die Prognosen der Ärzte unter Umständen nicht korrekt waren. Mein Mann und ich sprechen fließend Englisch, für uns war es also kein Problem, auf der Convention zu kommunizieren. Aber uns war bewusst, dass nicht jede Familie dazu in der Lage ist. Und weil dieser Austausch mit anderen Betroffenen für uns so unheimlich wertvoll war, haben wir uns entschlossen, „Walking with giants“ nach Deutschland zu holen und den Familien die Möglichkeit zu geben, sich in ihrer Muttersprache mit anderen Betroffenen auszutauschen. Deswegen habe ich im Jahr 2018 mit meinem Mann, meinem Vater und einigen Freunden „WALKING WITH GIANTS GERMANY“ gegründet.
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Dein Kind hat also MOPD1. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich noch nie von diesem Gendefekt gehört habe. Magst/Kannst du dazu ein wenig erzählen?
MOPD Typ1 ist eine der seltensten Formen im Kleinwuchsbereich. Momentan haben wir 8 diagnostizierte Kinder in Deutschland und unter 200 Kinder weltweit. Es gibt auch (bis auf ganz wenige Ausnahmen) nur Kinder, denn MOPD Typ1 IST stark lebensverkürzend. Die Ausprägung dieses Gendefektes ist sehr unterschiedlich. Jonathan wird in wenigen Wochen 10 Jahre alt und ist 91cm groß und 10 Kilogramm schwer, sein Kopfumfang beträgt 36cm – das ist der Kopfumfang eines Neugeborenen. Er hat multiple Hirnfehlbildungen, kann bis heute weder sprechen, noch allein laufen, hat Epilepsie und Bluthochdruck und leidet als zweiter in der medizinischen Literatur beschriebener Patient an unkontrolliertem Elektrolytverlust. Er benötigt 17 x am Tag verschiedene Medikamente. Außerdem hat er diverse Knochenfehlbildungen und ein schlechtes Immunsystem, weswegen jeder Infekt potentiell tödlich enden kann.
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Wie war es, als Joni auf die Welt kam. Wusstet ihr sofort, dass ihr ein Baby mit Besonderheiten im Arm hieltet? Wie lief die Diagnostik bzw. wie zügig bekamt ihr die Diagnose?
Nein, das wussten wir nicht sofort. Jonathan kam am Ende des 7. SSM mit nur 490g und 29cm durch einen Notkaiserschnitt auf die Welt. Dass er nicht richtig gewachsen ist, wurde natürlich schon in der Schwangerschaft festgestellt. Doch da meine Plazenta nicht gut aussah, vermutete man einfach eine Unterversorgung. Wir hatten Untersuchungen wie den Harmony-Test und die Fruchtwasseruntersuchung; beides war unauffällig: „Das Kind ist zu 99% gesund.“ Heute wissen wir, auf so etwas seltenes wie MOPD Typ1 wird nicht automatisch getestet! Doch damals wägten wir uns „in Sicherheit“ und gingen einfach nur von einem unterversorgten Frühchen aus.
Mir fiel allerdings schnell auf, dass Jonathan anders aussah als die anderen Frühchen in den Inkubatoren neben uns und ich löcherte die Ärzte, bis sie sagten: „Wir vermuten, Ihr Sohn ist kleinwüchsig.“ Das war kein Träumchen, aber auch nicht rasend schlimm für uns. Doch nach ein paar weiteren Wochen eröffneten die Ärzte uns, dass sie einen Ultraschall vom Gehirn gemacht hätten – dort sei nichts, wie es sein sollte. Die Prognosen waren schlecht: Jonathan würde nicht allein sitzen, essen, krabbeln oder laufen können. Außerdem kam nun zum ersten Mal die Aussage, das man einen ganz seltenen Gendefekt vermute und unsere Erlaubnis zur Genanalyse wollte. Die haben wir erteilt; wir wollten ja auch wissen, was unser Sohn hat! Jonathan war 7 Monate alt, als wir die Diagnose schwarz auf weiß erhielten.
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Als ihr wusstet, euer Kind hat MOPD1 … was hat das für euch ausgelöst? Und wie beeinflusst es euer Leben?
Ich kann nur für mich sprechen: Ich bin in ein Loch gefallen. Schon ein Leben mit einem Kind mit Behinderung war für mich unvorstellbar – aber die Aussage der Ärzte, das Jonathan aufgrund des Gendefektes eine Lebenserwartung von nur ca. 9 Monaten hätte, hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Mein Kind kennenlernen, um mich dann relativ zeitnah wieder von ihm verabschieden zu müssen – unvorstellbar. Ich habe drei Tage zu Hause gesessen und geweint. Und sogar mit dem Gedanken gespielt, Jonathan zur Adoption freizugeben – worauf ich rückblickend nicht stolz bin, aber es ist die Wahrheit. Mein Mann wusste, welche Knöpfe er bei mir drücken muss und sagte, dass er die Papiere zur Adoption unterschreiben würde, aber ich müsse sie beim Amt holen. Er wusste, dass ich das nicht konnte. Und so bin ich am vierten Tag wieder zu meinem Sohn ins Krankenhaus gefahren und habe bis heute nie wieder auch nur einen Tag gezweifelt, sondern dieses Leben angenommen.
Dieses Leben, das sich durch Jonathans Geburt um 180 Grad gedreht hat. Ich musste meinen Job aufgeben, weil Beruf und Pflege nicht vereinbar waren.
Dieses Leben, das so ganz anders ist, als alles, was ich mir jemals vorgestellt habe; geprägt von Therapien und Arztbesuchen, von Unsicherheiten und dem Gefühl, mit diesem Schicksal allein zu sein….
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… und aus diesen Gründen hast du dann den Verein gegründet, richtig? War das eine komplizierte Angelegenheit oder würdest du sagen: Verein gründen ist easy und du würdest das immer wieder einfach machen?
Richtig!
Naja…Deutschland, ein Land der Bürokratie, nicht wahr? (Lach)
Also rückblickend würde ich ein paar Dinge anders/einfacher machen. Um einen Verein zu gründen, braucht es 7 Menschen und eigentlich nur ein wenig Unterstützung vom Finanzamt. Dort gibt es BearbeiterInnen, die sich ausschließlich mit dem Vereinswesen beschäftigen und einem helfend zur Seite stehen.
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Dann erzähl doch mal, was Walking with Giants Germany e.V. für Familien wie die eure tut? Wie helft ihr? Und wie ist das Feedback?
In erster Linie bringen wir die Familien miteinander zwecks Austausches in Kontakt. Die Welt ist für so extrem kleinwüchsige Kinder wie unsere nicht gemacht, es ist einfach wichtig, sich gegenseitig zu supporten. Wir bringen aber (mit Einverständnis der Eltern) auch die Ärzte miteinander in Kontakt und vernetzen sie mit dem Forschungsteam, um Zugang zu den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft zu gewährleisten.
Außerdem sind wir ein eingetragener und gemeinnütziger Verein, was bedeutet: Man kann bei uns Mitglied werden oder für Einmalspenden Spendenquittungen zur Vorlage beim Finanzamt bekommen. Mit den Geldern unterstützen wir die Familien finanziell bei allem, was die Krankenkassen nicht übernehmen – also z.B. Zuzahlungen zu Hilfsmitteln, Medikamente oder Therapien, die nicht übernommen werden, Maßanfertigungen von Kleidung oder Schuhen usw.
Einmal im Jahr veranstalten wir ein Familien-Wochenende, bei dem alle zum persönlichen Austausch zusammenkommen können. Für die Eltern ist es unheimlich wertvoll, mal Auge in Auge mit anderen Eltern zu reden, die sie komplett verstehen….für die betroffenen Kinder ist es so wichtig, wenigstens einmal im Jahr anderen Kindern im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe begegnen zu können – das ist nämlich etwas, was sie im Alltag nie erleben…und für die Geschwisterkinder ist es bereichernd, mit anderen Geschwistern in Kontakt zu kommen, die wohl besser als alle anderen Kinder verstehen können, was dieses Leben auch mit den Geschwistern macht! Die Kosten für dieses Wochenende übernimmt der Verein, bzw. werden wir auch von vielen örtlichen Unternehmen gesponsert. So gewährleisten wir, dass jede Familie die Möglichkeit hat, teilzunehmen – unabhängig vom eigenen Geldbeutel! Denn bei pflegenden Eltern arbeitet in der Regel ja nur ein Elternteil und die finanzielle Situation ist dadurch sehr angespannt.
Das Feedback der Familien zu unserer Vereinsarbeit ist durchweg positiv und die Beteiligung am Familien-Wochenende wird jedes Jahr größer: gerade aktuell bin ich in der Endphase der diesjährigen Planung und es kommen fast die Hälfte der Familien, die dafür teilweise 9 Stunden Anfahrt mit dem Auto in Kauf nehmen.
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Im Vorgespräch hast du mich gefragt, ob wir auch das Thema Pflege bzw. Leben als pflegende Mutter in diesem Interview ansprechen können. Und weil ich weiß, dass das wirklich ein großes ist, dass dringend noch viel, viel mehr Sichtbarkeit benötigt, möchte ich dir an dieser Stelle den Raum geben. Bitte erzähl ein bisschen aus deinem Alltag, wo die Herausforderungen liegen, was du dir dringend von der Gesellschaft und der Politik wünschen würdest:
Pflege und Beruf sind in unserer Gesellschaft durch fehlende/nicht ausreichende Unterstützungsangebote nicht wirklich vereinbar. Ich musste meinen Job als Führungskraft aufgeben, weil wir keinen Kindergarten gefunden haben, der sich in der Lage gesehen hat, Jonathan mit seinen Besonderheiten und vielen Medikamentengaben zu betreuen. Faktisch bedeutet das für mich, das ich nun 24×7 arbeiten gehe (ohne Urlaubsanspruch übrigens!) – und ohne die geringste Bezahlung dafür zu bekommen, denn das Pflegegeld gehört von Gesetzes wegen gar nicht mir … sondern Jonathan! Pflegegeld ist KEIN LOHN für denjenigen, der pflegt. Es gehört der zu pflegenden Person. Da ich hoffe, dass ich Jonathan noch viele, viele Jahre pflegen darf und deswegen keinen bezahlten Job annehmen kann, steuere ich durch das Pflegemodel auf die Altersarmut zu. Denn Rentenansprüche werden berechnet, aber anhand des Pflegegeldes – das faktisch gar nicht mir gehört und außerdem nur ein Fünftel von dem ist, was ich früher verdient habe.
Und übrigens, was viele auch nicht wissen: Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte ich nicht einen Tag lang! Denn obwohl ich über 20 Jahre viel in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt habe, stehe ich durch die 24×7 Pflege dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung und habe kein Anrecht auf diese Leistung. Auf Bürgergeld aber auch nicht, denn dafür verdient mein Mann zu viel.
Vom finanziellen Aspekt abgesehen, ist Entlastung vom Pflegealltag ein großes Thema. Es gibt für pflegende Eltern und Angehörige nicht genug Unterstützung. Vieles ist auf ehrenamtlicher Basis, wie unsere Mitarbeiterin eines ambulanten Hospizdienstes die regelmäßig vorbeikommt und Jonathan stundenweise betreut.
Wenn man wie wir, nicht auf die Kurzzeitpflege in einem Hospiz zurückgreifen möchte und nicht wirklich medizinische Begründungen für die Anwesenheit eines Pflegedienstes hat, dann ist man fast komplett auf sich allein gestellt.
Dazu kommt diese UNFASSBARE Bürokratie!!! Wer nie gepflegt hat, kann sich einfach nicht ansatzweise vorstellen, wieviel Papierkram man bewältigen muss: Anträge für Teilhabeassistenz, Schwerbehindertenausweis und Parkausweis (um nur ein paar zu nennen) müssen regelmäßig neu gestellt werden. Dazu kommen die ständigen „Kämpfe“ mit der Krankenkasse um Hilfsmittel und Kostenübernahmen – wohlgemerkt von Dingen, die man eigentlich lieber nicht benötigen würde, weil das Kind dann nämlich gesund wäre! Rezepte, Nachweise, Atteste, Gutachten, Pflegeberatung … jeder will ständig irgendwas Schriftliches.
Was man nebenbei erledigt, also zwischen der Pflege und den zahlreichen Therapien und Arztbesuchen.
Manchmal denke ich: das LEBEN kommt viel zu kurz!!
Wobei leben mit einem Kind mit Behinderung in unserem Land sowieso schwierig ist. Denn: Inklusion ist bisher nur ein Wort auf dem Papier. Ich habe in unserem ganzen Landkreis noch nicht einen Spielplatz gefunden, auf dem Jonathan wirklich etwas tun könnte…ich habe auch keinen Sportverein gefunden, wo er aufgenommen würde. Also all die Dinge, die Kinder eigentlich mit fast 10 Jahren tun, bleiben meinem Kind verwehrt. Und das macht auch etwas mit einem als Mutter.
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Zum Schluss möchte ich dir noch die Möglichkeit geben, deinen Verein zu verlinken und sehr gerne auch einzubinden, wie man dich bzw. Walking with Giants Germany e.V. am besten unterstützen kann:
Mich persönlich erreicht man unter @Jonathan_ein_Leben_mit_mopd1.
Meinen Verein erreicht man unter @walkingwithgiantsgermany bei Instagram und Facebook oder über die Homepage unter „walkingwithgiants.de“.
Unterstützen kann man unseren Verein, indem man für 5€ monatlich Mitglied wird oder eine Einzelspende macht – jeder Euro hilft!! Danke!!!
Vielen Dank für das gelungene Interviw. Ich folge Joni auf Instagram, fand es trotzdem spannend nochmal alles zu hören! Herzliche Grüße Wica