Ich denke, man kann es ohne große Übertreibung einfach aussprechen: Nach über zwei Jahren Pandemie laufen die meisten Erwachsenen – wie auch Kinder – mal mehr, mal weniger bewusst am Limit. Wer trotzdem noch Kapazitäten für mehr Sorgen übrig hatte, konnte sich zusätzlich wunderbar mit der Klimakrise befassen … eine weitere Baustelle, einen KRIEG in Europa, hätte daher nun wirklich niemand mehr on top gebraucht. Nun haben wir ihn aber und das bedeutet: NOCH eine Schüppe Angst und Sorgen oben drauf auf das eh schon sehr amtliche Chaos … und die Fragen: Wie geht es jetzt weiter? Wie schlimm wird es noch? Wie sollen wir – jeder für sich, aber auch wir alle zusammen – das bloß alles schaffen?
Mit Angststörung zwischen Pandemie & Krieg
WIE groß die Ängste bei jedem einzelnen gerade sind, ist unglaublich verschieden und abhängig von wahnsinnig vielen Faktoren. Das gleiche gilt für den Umgang damit. Für Eltern ist es eine ganz besondere Gradwanderung, denn wir werden beobachtet. Selbst wenn wir wollen würden … wir dürfen nicht zusammenbrechen, wir dürfen uns auch nicht verkriechen und auch tagelanges vor der Glotze liegen, um die Welt auszublenden, steht nicht zur Wahl. Wir müssen diese ganze Situation stattdessen auch noch kindgerecht auf- und verarbeiten – sofern unsere Kleinen bereits alt genug sind, etwas davon mitzubekommen (sei es durch uns oder andere in der Schule oder auf dem Spielplatz oder sonst irgendwo) und wir Fragen gestellt bekommen oder schlicht wahrnehmen, dass da Redebedarf ist. All das stellt für die meisten von uns aktuell Hürden dar – wie schwer muss es dann erst für jene sein, die zusätzlich z.B. eine diagnostizierte Angststörung haben?!
Ganz ehrlich: Ich kann es mir kaum vorstellen. Deshalb bin ich dankbar, dass Jennifer uns einen Einblick gewährt in ihr Leben mit einer Angststörung … zwischen Pandemie und Krieg. Genaugenommen hat Jennifer eine sogenannte “generalisierte Angststörung”; die stetige Angst davor, was alles Schlimmes passieren könnte – selbst dann, wenn eigentlich gerade alles in Ordnung ist. Was die aktuelle Weltlage in ihr auslöst, versucht sie nun im Interview zumindest ein bisschen zu beschreiben.
Jennifer ist übrigens kein Pseudonym, denn es ist ihr wichtig, das Thema offen zu kommunizieren und damit vielleicht wieder einmal etwas mehr an einem Tabuthema zu kratzen, dass keines sein sollte.
Liebe Jennifer, magst du dich vielleicht erst einmal kurz vorstellen?
Gern! Ich bin 39 Jahre (und das noch einige lange Monate), verheiratet (mit Höhen & Tiefen seit 2009) und Mama von vier Kindern im Alter von 19, 8, 5 und 3 Jahren. Es sind alles Jungs. Weibliche Unterstützung habe ich nur durch Katze Rosi. ;)
Ich arbeite in einer gynäkologischen Praxis und bei einem betriebsärztlichen Dienst in der Klink. Beides in Teilzeit, so dass ich insgesamt Vollzeit arbeite.
Ich weiß nicht ob es mich oder uns als Familie besonders macht, aber mir macht es das Leben gerade besonders anstrengend: Ich habe seit Ende 2019 eine Angststörung und versuche trotzdem für meine Kinder eine lustige, verlässliche und entspannte Mutter zu sein.
Es gibt ja ganz viele verschieden Arten von Angststörungen und Symptomen dazu … wie begann und verlief es bisher bei dir?
Die Angst kam schleichend in einer Zeit die sehr trubelig war. Die Kleinen waren 1, 3 und 6. Mein Mann und ich haben beide voll gearbeitet und wie es so ist bei den meisten Müttern, habe ich mir die ganze Care Arbeit auch noch alleine aufgeladen. Geburtstage, Weihnachten etc. Ich brauch da keine Hilfe, mache ich schon. Der Mann, gar nicht böse meinend, hat mich gelassen.
Bis der Stress so groß war, dass er sich ein Ventil suchte. Ängste kamen, die ich vorher nie hatte. Der Klimawandel, wie werden die Kinder später leben (müssen)? Was ist mit Krankheiten, was wenn wir einen Autounfall haben usw.? Nächte lang lag ich wach, mit Angst und Panik, am Tag immer 100% im Job und zu Hause funktionierend. Bis nix mehr ging. Ich konnte nicht mehr aus dem Gedanken-Karussell raus, Autobahn ging nicht mehr.
Ich habe eine Therapie angefangen und der Therapeut konnte meine Gedanken wieder in normale Bahnen lenken. Ich lernte dabei, woher meine Ängste kommen, wie ich damit umgehen muss, was ich tun kann, um sie zu mildern.
In der Corona-Zeit war mein Mann in Kurzarbeit und hat hier zu Hause den Laden geschmissen, während ich weiter voll gearbeitet hab. Das hat so viel Stress von mir genommen, dass die Ängste deutlich besser wurden.
Ich habe eine Mutter-Kind-Kur gemacht (ja, mit allen Kindern und nur zu empfehlen) und nahm leichte Antidepressiva. Die Therapie hat pausiert, soweit war es ok.
Und dann wurdest du wieder aus der Bahn geworfen durch den Kriegsausbruch. Natürlich setzt so etwas sehr vielen Menschen stark zu, aber wenn man bereits eine Angststörung hat, sind die Dimensionen, in der die Emotionen über einen hinwegrollen, sicher nochmal etwas anderes, richtig?
Ja, ich denke schon. Ich habe es so erlebt; den Donnerstag, als der Krieg ausbrach: Während ich die Kinder für den Karneval fertig machte, lief das Radio und ich konnte die Nachrichten kaum verfolgen. Meine seit 2 Jahren gepflegten Ängste waren so nah und so präsent. Ich wusste überhaupt nicht wohin mit mir … musste mit den Kindern über ihre Kostüme lachen, dabei die Tränen der Angst und das Gefühl der Luftnot unterdrücken.
Auf der Arbeit konnte ich dann nur noch weinen und musste deshalb mittags heim.
Wie geht gehst du gerade mit der Lage um? Welche Hürden nimmst du jeden Tag?
Seit dem Kriegsausbruch lebe ich in zwei extremen Gefühlslagen, die ich versuche, nebeneinander zu vereinen. Ich kann kaum Nachrichten ertragen, ich schlafe sehr schlecht und liege stundenlang angsterfüllt wach. Ich fühle mich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Morgens das erste Mal Radio an … ein Alptraum. Was mag die Nacht über wohl passiert sein?
Und dann sind da drei kleine Kinder. Was bekommen sie mit? WIE soll und kann ich mit ihnen reden? Ich, die am liebsten nie wieder vor die Türe gehen würde, wie soll ich mit den Kindern reden, kindgerecht erklären, was da grade passiert, ohne dabei sofort vor ihnen zusammenzubrechen???
Der 3jähirge, der mir mit voller Begeisterung einen schlafenden Marienkäfer (wir wissen, er hat nicht geschlafen) zeigt und sich so freut, wie es nur Kinder können. Der 8jährige, der mir voller Stolz seinen ersten Liebesbrief an seine Klassenkameradin zeigt.
Und der 5jährige, das einfühlsamste und sensibelste meiner Kinder. Der nun noch mehr als sonst an mir klebt. Der Wutanfälle hat und sich dann weinend an mich klammert. Der am liebsten nur zu Hause bleiben und mich nie loslassen will…
Und hallo … ich hab eh schon ein schlechtes Gewissen: Was tue ich meinem Kind an?? Warum kann ich nicht die starke, verlässliche Mama sein, die er braucht?
Ich will mich so sehr mit meinen Kindern über ihre kleine Welt freuen. Aber die Angst sagt einfach: Nope!
Du hast es alleine versucht, doch glücklicherweise recht schnell deine eigenen Grenzen erkannt und dich deshalb an deinen Arzt gewendet, richtig?
Ja, ich hab es versucht, aber irgendwann war da der Overload. Ich konnte nicht weiter, deshalb bin ich zu meinem Hausarzt gegangen. Ich konnte vor lauter weinen kaum reden. Also bekam ich ein stärkeres Antidepressivum (wirkt zum Glück ganz gut, macht aber auch nicht happy) und ab nächster Woche startet wieder meine Therapie. Dabei fällt mir reden gerade so schwer. Ich hab das Gefühl, wenn ich „es“ laut ausspreche, ist es da. Also umschreibe ich die „Situation“, deren Name nicht genannt werden soll. Total bescheuert.
Über einen stationären Aufenthalt habe ich nachgedacht, aber dafür geht’s mir nicht schlecht genug (ich funktioniere ja im Alltag) und ich möchte grade meinen 5jährigen nicht „alleine“ lassen.
Wie sieht es mit den Menschen in deinem Umfeld aus? Wie gehen sie mir dir um? Und wie du mit ihnen?
Ich habe natürlich Freundinnen und Familie, die mir Ohren und Ablenkung anbieten. Aber da kommt wieder mein „ich kann nicht drüber reden, sonst ist es real“ durch. Wenn das Thema bei Bekannten z.B. auf dem Spielplatz aufkommt, kann und muss ich sagen: Stopp, ich KANN darüber nicht reden!
Was wünschst du dir gerade am meisten? Mal ganz von einem schnellen Kriegsende abgesehen?
Ich weiß natürlich, dass die Zeit für alle schwierig ist, und dass sich noch niemand vom ganzen Corona-Gedöns erholt hat. Der Krieg kommt ja einfach noch on top! Deshalb wünsche ich mir nicht nur für mich, sondern eigentlich für uns alle, einen Frühjahrsschlaf und ein friedliches Aufwachen im Juli. Im besten Fall ohne Pandemie und Krieg. Da startet nämlich unser Geburtstagsmarathon: 3 Kinder in 2,5 Wochen. Und DAS war bislang mein realer Krieg und für mehr bin ich einfach nicht bereit!
Ich danke Jennifer für dieses sehr offene Interview und hoffe, dass es mit dazu beiträgt, uns alle daran zu erinnern: Nicht jeder KANN über die aktuellen Geschehnisse diskutieren oder auch nur darüber sprechen. Und: Manchmal steckt viel mehr dahinter, als wir auf den ersten Blick erkennen können. Daher sollten wir uns alle bemühen, vorsichtig miteinander umzugehen. Wir sind alle „wund“; einige aber eben noch mehr als andere …
PS: Wie immer freue ich mich, wenn ihr den Beitrag teilt :-*
Vielen lieben Dank für dieses Interview!
Das ist so ein wichtiges Thema!
Bei mir wurde vor ein paar Jahren auch eine generalisierte Angststörung diagnostiziert. Nachdem ich in den letzten Tagen das Gefühl hatte, es einfach nicht mehr aushalten zu können, scheint es heute erstmalig wieder aufwärts zu gehen.
Dass mit dem „nicht drüber sprechen wollen“ fällt mir aktuell bei vielen Menschen in meinem Umfeld auf, auch bei (vermeintlich) psychisch stabilen Menschen.
Ich wünsche uns allen weiterhin viel Kraft!