die Tafel
Herzensangelegenheiten

Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen – wie die Tafel hilft und wo ihre Grenzen liegen.

Folgendes ist nichts, was ich ständig irgendwo erzähle, was mich aber sehr geprägt hat: Bis ich ungefähr 30 Jahre alt war, lebte ich fast durchgehend am Existenz-Minimum. Es war für mich gelernter Normalzustand, nur das Nötigste einzukaufen, allgemein auf vieles zu verzichten, an der Kasse Herzrasen zu bekommen, wenn ich mal 50 € in einem Rutsch ausgeben musste und ein paar Kilometer zu meinem Thekenjob in einer Diskothek zu laufen, obwohl ich eine mindestens 6 Stunden-Schicht auf den Füßen vor der Nase hatte, schlicht weil ich kein Geld für die Bahn ausgeben konnte. Das Gefühl von Existenzangst war mein stetiger Begleiter … und ich erinnere mich sehr gut daran, auch wenn es mir mittlerweile finanziell viel besser geht und ich nicht mehr abends vor dem Einschlafen im Kopf durchrechnen muss, ob ich über den Monat komme. Ich erinnere mich SEHR GUT! Und vielleicht berührt es mich deshalb nochmal mehr, wenn ich in der Presse lese oder auch im eigenen Umfeld mitbekomme, wie immer mehr Menschen – vor allem Familien – nicht mehr mit ihrem Geld auskommen, weil die Lage nun mal so ist wie sie gerade ist; nach Jahren der Pandemie und mit den (ersten) Auswirkungen des Krieges in Europa. Es erfüllt mich mit Sorge.

Die Tafel hilft wo sie kann, erreicht aber bereits ihre Grenzen

Sirkka Jendis
Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel (Foto: Navina Neuschl)

Wie schlimm es bereits ist, wie viel mehr große und kleine Leute um uns herum bereits von Armut betroffen oder auf dem Weg dorthin sind, können die Mitarbeiter der Tafel noch sehr viel besser beurteilen als ich, denn sie stehen an vorderster Front … und verzweifeln langsam, denn schon den aktuellen Hilfsbedarf können sie kaum mehr decken; nicht auszudenken, wie es wird, wenn die Politik nicht reagiert und die Herbst-/Winter-Monate nochmal schwerer für viele werden. Die Tafel ist schließlich ein Ehrenamt mit begrenzten Mitteln, was immer öfter vergessen wird. Der reine Wunsch zu helfen und viel Herz allein reichen einfach nicht. Es braucht dringend mehr.

Wie die Situation aktuell genau aussieht, was die Tafel leistet, wo ihre Grenzen liegen und wie WIR helfen können, habe ich Sirkka Jendis – Geschäftsführerin von Tafel Deutschland e.V. – gefragt … und ich freue mich sehr, dass sie sich die Zeit für dieses Interview genommen hat!

Vorab sei noch gesagt: Ich finde das Wording „armutsbetroffene Menschen“ ganz wichtig. Es macht deutlich, dass es keine Schuldfrage gibt. Armut kann jeden treffen; heutzutage schneller, als je zuvor.

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Liebe Frau Jendis, erst einmal vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für meine Fragen nehmen. Ich falle auch direkt mit der Tür ins Haus: Wie ist die Lage in Deutschland in Sachen Armut gerade?

Die Lage ist äußerst dramatisch, das muss ich so direkt sagen. 13,8 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut bedroht oder betroffen, wie der Paritätische Gesamtverband vor kurzem bekanntgegeben hat. Diese Zahl bezieht sich aber noch auf 2021. Seitdem hat sich die Lage verschärft: Zusätzlich zur Pandemie verstärken auch die Inflation und die Folgen des Angriffskriegs auf die Ukraine die soziale Ungleichheit in Deutschland. Menschen, die schon vorher armutsbetroffen waren oder bisher wenig verdient haben, treffen die Folgen der aktuellen Krisen am stärksten.

Das merken auch wir: Seit Jahresbeginn hat sich die Zahl der Tafel-Kund*innen um die Hälfte erhöht. Mittlerweile holen über zwei Millionen Menschen Lebensmittel bei einer Tafel ab. Dass sich so viele Menschen in unserem eigentlich reichen Land Grundbedürfnisse nicht mehr leisten können, ist schockierend. 

Die Tafel und ihre ehrenamtlichen Helfer*innen stehen in vorderster Front, um armutsbetroffenen Menschen zu helfen. Doch die Ressourcen sind natürlich begrenzt. Wie nah steht die Tafel Deutschland bereits davor, ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden zu können? 

32 Prozent der Tafeln mussten leider vorübergehend einen Aufnahmestopp einführen und können momentan keine neuen Kund*innen annehmen. Sie haben zu wenige Ehrenamtliche, erhalten nicht genug Lebensmittelspenden oder beides. Das ist eine enorme Belastung für die Ehrenamtlichen, dass die Nachfrage so riesig ist, sie aber nur begrenzt helfen können. Am schlimmsten ist das aber selbstverständlich für armutsbetroffene Menschen.

Tafeln helfen, so viel wie möglich. Wir müssen jedoch klar sagen, dass Tafeln ein freiwilliges und größtenteils ehrenamtliches Angebot sind. Die Lebensmittel, die wir verteilen, ergänzen Einkäufe, können sie aber nie komplett ersetzen. Die Versorgung aller Menschen in Deutschland muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt.

Aus meiner Community bekomme ich mit, dass aktuell immer mehr Familien betroffen sind. Gerade solche, die noch recht kleine Kinder haben. Die Gürtel müssen enger geschnallt werden, die Kinder auf vieles verzichten – damit meine ich keine großen Geschenke, sondern schlicht abwechslungsreiches Essen oder kleine Extras wie ein Eis auf die Hand. Sehen Sie das auch, dass es immer mehr junge Familien werden, die Hilfe brauchen?

Umfrage-Ergebnis aus der LÄCHELN UND WINKEN-Story

Ja, leider kommen besonders seit dem Beginn des Krieges und der Preiserhöhungen immer mehr Menschen zu den Tafeln, die noch bis vor kurzem nicht gedacht hätten, dass sie mal auf Unterstützung angewiesen sein würden. Wir erleben eine mehrfache Krise, in der immer mehr Menschen von Armut bedroht oder betroffen sind. Über ein Viertel unserer Kund*innen sind jünger als 18 Jahre. Kinder- und Familienarmut ist eines der großen Probleme unserer Zeit, das viel zu wenig beachtet wird.

Ich bin sicher, es ist eine große Hürde – vor allem für neu armutsbetroffene Menschen – sich plötzlich in die Schlange vor einer Tafel einzureihen. Wie sehr spüren die ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Tafel das Leid, die Zerrissenheit und die Sorgen ihrer Kunden und Kundinnen? 

Für viele Menschen ist es eine riesige Überwindung zu uns zu kommen. Sie schämen sich und zögern ihren ersten Besuch oft so lange hinaus, bis sie sich nicht mehr anders zu helfen wissen. Das spüren wir bei den Tafeln gerade jetzt, da die Preise immer weiter erhöht werden. Viele Menschen sind mit ganz viel Sparen und Verzicht bisher irgendwie über die Runden gekommen. Jetzt geht es nicht mehr. Die staatlichen Soforthilfen kommen bei armutsbetroffenen Menschen kaum oder gar nicht an, deshalb suchen sich immer mehr Menschen anderweitig Unterstützung, beispielsweise bei einer Tafel.

Tafeln können die Not nur lindern und sind ein Zusatzangebot, keine staatliche Leistung, auf die Anspruch besteht. Unsere Ehrenamtlichen engagieren sich, um Menschen in Notsituationen soweit wie möglich zu helfen. Die Ängste und den Kummer unserer Kund*innen spüren wir jeden Tag. Besonders besorgt sind sie und auch wir darüber, dass keine Entspannung in Sicht ist. Die Lebensmittelpreise werden weiter erhöht und Nachzahlung drohen z.B. bei Heizkosten. Die Regierung muss die Soforthilfen dringend nachbessern und armutsbetroffene Menschen gezielt unterstützen. Wir wissen nicht, wie es sonst weitergehen kann.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, welcher „Wind“ einem entgegen blasen kann, wenn man auf staatliche und/oder ehrenamtliche Unterstützung jeglicher Art für den eigenen Lebensunterhalt angewiesen ist. Allerdings ist es bei mir schon Jahrzehnte her, dass ich Hilfe benötigte. Wie sieht es aktuell? Wie werden armutsbetroffene Menschen heute in unserer Gesellschaft beurteilt und behandelt?

Leider gibt es noch immer so viele absurde und falsche Vorurteile, beispielsweise, dass armutsbetroffene Menschen faul und selbst schuld an ihrer Situation sind. Das stimmt nicht. Die meisten Hartz-IV-Empfänger*innen arbeiten, verdienen aber so wenig, dass sie aufstocken müssen. Viele Menschen können keiner Lohnarbeit nachgehen oder das nur in Teilzeit tun, weil sie Angehörige pflegen, Kinder betreuen oder selbst krank sind. Niemand sucht sich Armut aus, denn Armut bedeutet meist Verzicht, Isolation und Existenzangst. Eine enorm belastende Situation!

Der Leistungsgedanke ist immer noch tief in unserer Gesellschaft verankert: Wer sich anstrengt und hart arbeitet, hat Erfolg. Müssten dann nicht aber Pflegepersonal, Reinigungskräfte oder Lagermitarbeiter*innen großer Versanddienstleister gut verdienen und mit ihrer Familie sicher davon leben können? Das Gegenteil ist häufig der Fall: Viele wichtige, systemrelevante Jobs strengen körperlich und psychisch enorm an, sind aber schlecht bezahlt.

Vielleicht steckt hinter dem Leistungsgedanken auch eine Hoffnung und eine Art Selbstschutz: Wenn ich mich selbst anstrenge, wird es meiner Familie und mir gutgehen. Leider kann Armut beinahe jede*n treffen, beispielsweise ausgelöst durch eine plötzliche Krankheit, eine Trennung, den Tod der Partnerin oder des Partners oder eben eine Pandemie. Damit möchte ich niemandem Angst machen. Ich plädiere aber für ein Verständnis für armutsbetroffene Menschen und für Solidarität.

Gleichzeitig setzen wir uns als Verband dafür ein, dass alle Menschen besser abgesichert werden. Wir fordern von der Bundesregierung u.a. eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung sowie armutsfeste Regelsätze für Arbeitslosengeld II und die Grundsicherung im Alter. Der Staat muss für mehr finanzielle Gerechtigkeit sorgen und armutsbetroffene Menschen entlasten.

Davon abgesehen, dass die Politik wirklich dringend aktiv werden muss, habe ich nun schon mehrfach gelesen, dass sich die Tafel auch von der breiten Mehrheit, also uns allen, etwas wünscht … nämlich mehr Solidarität für armutsbetroffene Menschen. Wie kann diese aussehen?

Der Unterschied zwischen Arm und Reich wird immer größer, das führt leider auch zu einer sozialen Entfremdung. Wir alle tragen Verantwortung für unsere Gesellschaft und dafür, dass armutsbetroffene Menschen nicht ausgegrenzt werden.

Solidarität kann beispielsweise geschehen durch eine Spende oder ehrenamtliches Engagement für eine Organisation wie die Tafeln, die armutsbetroffene Menschen unterstützt. Zu uns kommen immer wieder Ehrenamtliche, die komfortabel leben und etwas zurückgeben möchten. Bei der Tafel begegnen viele von ihnen zum ersten Mal armutsbetroffenen Menschen und haben die Möglichkeit, sich mit ihnen auszutauschen und ihnen zuzuhören. Sie verstehen oft erst dann, welche unterschiedlichen Gründe und Auswirkungen Armut in Deutschland haben kann. Das öffnet vielen die Augen und bestärkt sie in ihrem Engagement.

Ein Ehrenamt oder eine Spende sind immer freiwillig und nicht jedem finanziell und/oder zeitlich überhaupt möglich. Wir finden es aber auch wichtig, dass sich Menschen, die nicht in Armut leben, mit dem Thema auseinandersetzen und zuerst einmal Betroffenen zuhören. Das können Menschen aus ihrem eigenen Umfeld sein oder Menschen, die z.B. auf Twitter unter #IchBinArmutsbetroffen oder in Sachbüchern über ihre Erfahrungen berichten. Vorurteile können wir nur abbauen, wenn wir uns gegenseitig zuhören und mit den Menschen statt über sie sprechen.

Aus unserer Sicht sind gegenseitiges Verständnis und Solidarität die Basis für gesellschaftliche und politische Veränderungen. Wer sich mit armutsbetroffenen Menschen und ihren Lebensgeschichten beschäftigt, merkt schnell, dass Armut ganz verschiedene Gründe hat. Sie ist meist ein strukturelles Problem: Das erkennt man z.B. daran, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie Alleinerziehende oder Familien mit mehreren Kindern überdurchschnittlich oft in Armut leben. Es gibt einfach nicht ausreichend Unterstützung oder Flexibilität für sie, etwa bei der Kinderbetreuung oder den Arbeitszeiten.

Dafür müssen wir als Gesellschaft ein Bewusstsein entwickeln. Jede*r kann dazu beitragen: Bitte hören Sie Betroffenen zu, sprechen Sie über Armut und sensibilisieren Sie Nicht-Betroffene, beispielsweise Unternehmer*innen mit Personalverantwortung.

Zuhören, sich entsprechend der eigenen Möglichkeiten engagieren und sich für politische Veränderung starkmachen, auch wenn man selbst nicht betroffen ist  – all das ist Solidarität. 

Wohin können sich Menschen wenden, wenn Sie ehrenamtlich helfen möchten und können?

Interessierte wenden sich am besten direkt an die Tafel in ihrer Nähe, bei der sie sich engagieren möchten. Die Kontaktdaten finden sie auf unserer Website unter www.tafel.de/tafel-suche.

Es gibt viele verschiedene Einsatzmöglichkeiten: Ehrenamtliche holen die Lebensmittelspenden bei den Spender*innen ab und fahren sie im Tafel-Fahrzeug zur Tafel. Dort sortieren weitere Tafel-Helfer*innen die Produkte und verteilen sie an unsere Kund*innen. Auch in der Freiwilligenkoordination, im Fundraising, in der Öffentlichkeitsarbeit oder bei der Projektorganisation ist Unterstützung willkommen. Ehrenamtliche übernehmen aber auch Leitungsverantwortung, beispielsweise im Vorstand ihrer Tafel.

Rund 60.000 Menschen engagieren sich momentan bei den Tafeln – wir sind immer wieder begeistert, mit wie viel Engagement sie sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzen und mit wie viel Herzblut sie den Alltag armutsbetroffener Menschen aus ihrer Nachbarschaft mit praktischer Hilfe erleichtern möchten!

Und zu guter Letzt: Hier wäre dann noch Platz für das Spendenkonto der Tafel <3 :

Wir freuen uns über jede Unterstützung, denn die Tafel-Arbeit ist nur dank Spenden möglich. Wer möchte, kann gerne direkt auf unserer Website unter https://www.tafel.de/spenden/jetzt-spenden/ spenden. Wer sein Flaschenpfand spenden möchte, kann das in manchen Discountern tun – hier hilft jeder Cent.

Unser Spendenkonto lautet:

Bank für Sozialwirtschaft

BIC: BFSWDE33BER

IBAN: DE63100205000001118500

Herzlichen Dank!

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Mein Fazit: Die Lage ist prekär und es ist zu erwarten, dass es in absehbarer Zeit nicht besser, sondern noch weitaus schwieriger wird. Helfen können wir alle – indem wir spenden, sofern es uns möglich ist, selbst aktiv werden in Organisationen und Vereinen, die sich kümmern … vor allem aber, indem wir umdenken und gemeinsam dafür Sorge tragen, dass zumindest niemand mehr das Gefühl hat, sich schämen zu müssen, wenn es ohne Hilfe nicht mehr weitergeht.

Vielen Dank, liebe Frau Jendis, für dieses Interview und die dadurch gegebene Möglichkeit, MEHR zu sehen und natürlich außerdem vielen Dank an Sie und all Ihre Kolleg*innen, für ihren unermüdlichen Einsatz!

PS: Wie immer freue ich mich, wenn ihr den Beitrag teilt … diesmal ganz besonders! <3

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