die Mama mit den traumatisierten Kindern
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Eltern-Interview: Die Mama mit den traumatisierten Kindern

Ich möchte ehrlich sein: Als ich die Antworten der Mama mit den traumatisierten Kindern auf meine Interview-Fragen zum ersten Mal gelesen habe, liefen mir die Tränen über die Wangen und ich fragte mich ernsthaft, ob ich diesen Artikel wirklich veröffentlichen könnte. Vielleicht ist es doch zu hart, dieses Thema anzufassen, dachte ich, obwohl ich natürlich vorher gewusst hatte, worum es sich diesmal im Eltern-Interview drehen würde: Nämlich den sexuellen Missbrauch von Ingas Kinder durch den Vater und die daraus resultierenden Folgen. Dennoch traf es mich unvermittelt heftig, ihre Geschichte und vor allem über die Konsequenzen zu lesen – also überlegte ich. Doch nur kurz. Dann fiel mir Ingas erste Mail an mich wieder ein: “Ich würde mich für ein Interview interessieren, weil ich gerne mehr Öffentlichkeit dafür hätte, wie schnell einen so etwas treffen und wie dass das Leben verändern kann.” Und damit hat sie recht. Es kann einen viel schneller selbst treffen, als man vielleicht denkt und es ist wichtig, den Blick für derlei schreckliche Übergriffe zu schärfen, nicht weg-, sondern HINzusehen UND die Menschen, die betroffen sind, die Opfer, nicht noch zusätzlich zu bestrafen. Denn gerade letzteres passiert. Schrecklich oft sogar. Weil die meisten beim Thema sexueller Missbrauch sofort abwinken und nichts damit zu tun haben wollen. Klar, irgendwie verständlich. Aber so zwingen wir jene, die ganz dringend Liebe und Freundschaft brauchen, in die Einsamkeit. DAS habe ich dank Inga gelernt. <3

Inga* also ist 38 Jahre alt, arbeitet als Angestellte und ist seit 2015 geschieden und alleinerziehende Mama für ihre beiden Kinder Mia* (12 Jahre) und Anton* (9 Jahre), die von ihrem Vater sexuell missbraucht wurden. Im Interview gewährt sie uns einen kleinen Einblick in ihr Leben:

*die echten Namen wurden durch fiktive ersetzt.

Eltern-Interview mit Inga, der Mama mit den traumatisierten Kindern

1. Gibt es etwas an dir oder deiner Familie, dass die Menschen in deinem Umfeld (oder auch die Gesellschaft) als „anders“ oder „besonders“ bezeichnen würden? Wenn ja, was ist es?

Wir haben eine „Familiengeschichte“, die unser Umfeld überfordert. Beide Kinder wurden von ihrem Vater, als sie die Ferien dort verbracht haben (vielleicht auch schon vorher und öfter), sexuell missbraucht. Es wurden Fotos und Videos im kinderpornographischen Bereich mit ihnen gemacht und vermutlich dann verkauft. Beide Kinder sind dadurch traumatisiert, reagieren auf manche Situationen nicht so wie „normale“ Kinder, zeigen psychische Auffälligkeiten. Der sexuelle Missbrauch ist immer wieder unbewusst Thema und erstreckt sich in all unsere Lebensbereiche und Beziehungen.

2. Welche Reaktionen erntest du dafür, dass du bzw. ihr in einigen Punkten von der „offiziellen“ Norm abweicht?

Wir merken im Alltag immer wieder, dass dieses Thema Menschen sowohl unsicher, als auch wütend und hilflos macht, sie überfordert. Am liebsten wollen jedoch alle „mit so etwas“ nichts zu tun haben. Ich habe Freunden, als das damals über Kripo rauskam, davon berichtet und die Reaktionen waren zwar mir gegenüber erst mal mitfühlend, jedoch haben sich dann schnell alle Freundschaften „in Luft aufgelöst“. Die meisten haben sich einfach nicht mehr gemeldet, eine Freundin hat mir auch direkt gesagt, dass sie das nicht aushalten kann, mit diesem Thema konfrontiert zu sein und uns zu sehen und dass sie sich deshalb von uns distanziert. Alle anderen hatten einfach keine Zeit mehr, es kamen keine Nachrichten mehr und weil es mir selbst psychisch so schlecht ging, und es so viel zu tun gab, habe ich mich auch nicht mehr um diese Kontakte gekümmert. Das Fazit ist, dass wir nun gut ein Jahr, nachdem wir es wissen, sozial völlig isoliert dastehen.

Als gerade Mia am Anfang sexuell sehr auffällig war (hat vor ihren Freunden über sexuelle Dinge gesprochen, die absolut nicht altersgemäß waren und ein Kind normal gar nicht weiß) haben viele Eltern die Freundschaften ihrer Kinder zu ihr abgebrochen. Sie wollten nicht, dass ihre Kinder mit so einem Kind Kontakt hat. Für Mia war das sehr schwer, war es doch für sie etwas „normales“ und das darüber sprechen sicherlich auch ein Zeichen dafür, dass sie es verarbeiten musste.

Besser reagiert haben die professionellen Personen in unserem Umfeld, hier insbesondere die Klassenlehrerinnen der Kinder, die informiert werden mussten. Sie haben sich sehr viel Mühe gegeben, Kontakt mit Therapeuten gehalten und gehen auf Probleme, die auftreten immer sehr einfühlsam ein. Anton z.B. dissoziiert sei dem, wenn ihn etwas emotional überfordert, schnell. Seine Klassenlehrerin hat sich von mir und seinem Therapeuten zeigen lassen, wie man ihn gut aus diesem Zustand wieder rausbekommt und das dann auch allen anderen Lehrern, die in der Klasse unterrichten, gezeigt, so dass in der Schule mit dieser Besonderheit ein ganz toller und respektvoller Umgang gefunden wurde.

3. Welchen Einfluss hat das auf dein Leben … als Individuum, aber auch als Frau und Mama?

Auf mein/unser Leben hat es großen Einfluss. Wir haben seitdem ganz viele Termine, zum einen Psychotherapien für uns alle drei, um das was passiert ist, verarbeiten zu können, eine Diagnostik, die das Jugendamt in Auftrag gegeben hat, um prüfen zu lassen, ob und wie Kontakte der Kinder zum Vater in Zukunft aussehen sollen (aktuell gibt es ein gerichtliches Kontaktverbot), zum anderen aber auch Aussagen bei der Polizei, in Gerichtsverfahren, die sowohl die Kinder als auch ich als Mutter machen mussten und noch machen werden müssen. Ich als Mama muss neben meiner Berufstätigkeit (der Vater zahlt keinen Unterhalt) und der Schule der Kinder all diese Termine koordinieren, die Kinder fahren, dazu kommen dann natürlich noch Hobbies der Kinder, lernen für Arbeiten in der Schule etc. Das alles täglich leisten zu müssen, zehrt sehr an meinen Kräften und lässt mir quasi keine Freizeit mehr. Außerdem mache ich mir sehr große Vorwürfe, dass ich meine Kinder nicht geschützt habe, dass ich das nicht habe kommen sehen, dass vielleicht schon früher Dinge passiert sind, die ich nicht gemerkt habe, dass ich mir so einen Mann ausgesucht habe und zum Vater meiner Kinder gemacht habe.

4. Was für eine Art Mama bist du? Was liebst du besonders an dieser Rolle? Was nicht so? ;)

Ich bin eine Mama, die versucht immer für ihre Kinder da zu sein und ihnen alles zu ermöglichen, was irgendwie geht. In manchen Fällen bin ich eher streng, z.B. was den Medienkonsum angeht (Playstation darf hier nur am Wochenende und in den Ferien gespielt werden und das Handy (nur Mia hat eines) muss abends abgegeben werden bis zum nächsten Morgen). Mir ist es wichtig, die Kinder bei dem zu unterstützen, was ihnen wichtig ist, z.B. ihre Hobbies.

Ich liebe an meiner Rolle als Mama, dass ich mit den Kindern Zeit verbringen kann, und sie auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden begleiten kann.

Was ich nicht so mag ist, dass ich die Kinder oft auch zu Dingen nötigen muss, auf die sie gerade keine Lust haben, dazu gehören normale Dinge wie Hausaufgaben machen oder für die Schule lernen, aber bei uns speziell auch dazu das jedes Kind zweimal in der Woche zur Psychotherapie muss, worauf sie nach der Schule nicht immer Lust haben oder zur Diagnostik.

5. Was wünschst du dir am meisten für deine Zukunft? Und was für die deiner Kinder?

Für meine Zukunft wünsche ich mir, dass ich wieder Freunde finde, ein soziales Netzwerk für mich und die Kinder aufbauen kann und dass meine Schuldgefühle weniger und ich psychisch wieder ganz gesund werde. Ach ja, und ganz pragmatisch wünsche ich mir das Geld für eine Putzfrau zu haben, damit ich meine wenige Freizeit nicht auch noch damit verbringen muss, die Wohnung zu putzen. ;-)

Für meine Kinder wünsche ich mir, dass sie das, was ihnen durch ihren Vater angetan wurde, verarbeiten können und es nicht ihr ganzes zukünftiges Leben bestimmen wird. Ich wünsche mir, dass sie bald wieder etwas mehr Normalität haben und ihr Leben nicht mehr so lange durch Therapie, Diagnostik und andere Termine bestimmt wird. Ich wünsche mir, dass sie den Rest ihrer Kindheit, der ihnen noch bleibt, genießen können und selbstbewusste und psychisch gesunde Erwachsene werden.

 

Liebe Inga, ich danke dir von Herzen für dieses sehr persönliche, sehr berührende Interview und wünsche dir und deinen Kindern für die Zukunft nur das Beste … und viele neue, GUTE Freunde! <3

Wer Kontakt zu Inga aufnehmen möchte, kann dies über ihren anonym geführten Instagram-Kanal paket.kinder tun.

Nochmal zur Erinnerung, warum ich diese tolle Interview-Reihe gestartet habe: Ob wir gute oder schlechte Eltern sind, hängt nur davon ab, ob wir aufgrund unserer innigen Liebe zu unseren Kindern immer darum bemüht sind, die besten Mamis und Papis zu sein, die wir sein KÖNNEN. Nicht mehr und nicht weniger. Das eint uns! Und genau DAS möchte ich mit dieser Interview-Reihe zeigen – um der Chance willen, mehr übereinander und unterschiedliche Lebensmodelle oder Persönlichkeiten zu erfahren. Weil ich das unheimlich toll und spannend finde … und ihr doch sicher auch?! Deshalb freue mich sehr, wenn sich weiterhin viele melden (mit einer Mail an hallo@laecheln-und-winken.com), um mitzumachen und etwas von sich zu erzählen. 

PS: Wie immer freue ich mich, wenn ihr diesen Text teilt! Danke! <3

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13 Kommentare für “Eltern-Interview: Die Mama mit den traumatisierten Kindern

  1. Das Internet vergisst nie, schön einen Artikel über so ein heikles Thema zu lesen.

    Was soll ich sagen ich bin 32 Mutter zwei wunderbarer Kinder und selbst Opfer. Mein Stiefvater hat mich als Kind missbraucht. Leider war es ein weiter Weg bis hierher, er war steinig und schwer. Aber ich hätte mir eine Mutter wie dich an meiner Seite gewünscht. Das Stigma haben auch wir als Familie erlebt. Das Stigma erlebe ich noch heute wenn ich offen drüber reden. Ich bräuchte Jahre lang Therapie und habe mich regelmäßig in Therapie begeben. In Schweden ist das übrigens normal einen Therapeuten zu haben, das ist die wie ein Hausarzt und nicht schlimm. Nun zum Thema, warum macht es uns sprachlos? Es sollte viel öfter Thema sein, dann würde es vielleicht auch weniger Täter geben. Ich hoffe sehr ihr habt in den letzten Jahren Ruhe rein bekommen und findet euren Weg. Ich verfluche es Opfer zu sein, weil die Gesellschaft mich nicht so annehmen kann wie ich bin, obwohl ich ich eine tolle erfolgreiche Frau bin und von allem schnell gemocht werde. Dennoch wenn ich erzähle was mir passiert ist bekomme ich den Stempel “Opfer” (Schlampe, Assi) etc. Was ich mir gewünscht hätte als Kind? Eine Mama die für mich da ist und mir zuhört, Freunde und deren Eltern die sich liebevoll Zeit nehmen mir beizubringen was richtig ist und was falsch war und warum und mir sagen das ich gut bin so wie ich bin. Männer die mir Zeit geben, Freunde die mir zuhören nur zuhören mehr nicht. Nun bin ich Mutter und ich weiß nicht ob ich meine Kinder schützen kann, aber ich bin für sie da. Und ich gehe sehr offen blickig durch die Welt und ja ich rufe auch mal beim Jugendamt an wenn ich ein Kind enorm auffällig finde. Das Jugendamt ist dazu da zu prüfen ob ich mich hoffentlich geirrt habe. Und sie können der Familie Hilfe anbieten. Mit hat das Jugendamt sehr geholfen , es war gut das sie da waren.

  2. Gerade lese ich diesen Artikel…ich hab gesehen es ist schon eine Weile her.
    Trotzdem muss ich ein paar Worte los werden.
    Ich denke das nichts auf der Welt mehr weh tun kann, …dieses Gefühl… wenn man denkt man hat sein Kind nicht beschützt.
    Ich hoffe das die Kids irgendwann damit abschließen können und sie eine bezaubernde, wunderschöne, erfüllende Zukunft haben werden.
    Ich hoffe das die Mama sich selbst nicht ein Leben lang Vorwürfe macht, irgendwann auch mal wieder ruhige verträumte Nächte hat, einen sorgloseren Alltag und jemanden zum zuhören findet.

    Ich wünsche von Herzen alles alles Liebe, viel Geduld mit euch selbst, Zuversicht, Mut,… einfach alles was ihr braucht für den Blick nach vorne.

  3. Ich bin eben erst auf den Artikel gestoßen und kann mich nur anschließen, was für eine unglaublich starke Mama! Ich wäre auch UNBEDINGT für eine Fortsetzung mir mehr Fragen an die Familie wie z.B. was die Anzeichen der Kinder waren, was für Therapien die Kinder haben, was mit dem Vater passiert und wie es so mit der Familie weitergeht.

  4. Seit dem dieser Artikel online ist lese ich ihn immer und immer wieder. Was eine starke Mutter, was eine bewegende Geschichte. Auch ich würde mir eine Fortsetzung von diesem Interview wünschen mit etwas spezifischeren und sensibeleren Fragen.

  5. Das ist so heftig, ich muss das immer und immer wieder lesen um es zu realisieren. Danke das du dich diesem Thema abnimmst, das ist so wertvoll.

  6. Ich würde mir noch ein Interview mit der Mama wünschen in dem speziellere Fragen zu diesem Thema gestellt werden. Das Thema ist so wichtig und sollte nicht unter den Teppich gekehrt werden.

  7. Liebe Anke,
    Worte die Nachklingen – Danke, dass du das Teilst.
    Liebe Inga, danke für deinen Mut und die Offenheit dies mit uns zu teilen….ich wünsche dir / euch alles Liebe und viel Kraft weiterzukämpfen.
    Herzlichst Astrid

  8. Liebe Inga,
    es tut mir von Herzen leid, dass deine Kinder so etwas erleben mussten und ich wünsche ihnen sehr, dass sie das Erlebte gut verarbeiten können. Und dir wünsche ich eine Riesenportion Kraft und Zuversicht, neue Freunde, die diesen Namen auch verdienen und bitte mach dir keine Vorwürfe! NIEMAND sieht so etwas kommen! An so etwas denkt man doch nicht. Die Schuld liegt ganz allein beim Vater und du tust für deine Kinder, was nur geht. Du bist eine tolle Mutter! Fühl dich unbekannterweise gedrückt.
    Ganz liebe Grüße
    Melanie