Frühchen
Interviews

Eltern-Interview: Zwei Frühchen, zwei unterschiedliche Verläufe – eine starke Familie.

Ich hatte großes Glück. Meine Kinder blieben beide fast 39 Wochen im Bauch und kamen dann quietschfidel auf die Welt. Dennoch erinnere ich mich sehr gut daran, dass ich beim Krümelchen einmal in die Klinik fuhr, weil ich dachte, Fruchtwasser zu verlieren – und das viele Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Ich hatte einige Stunden unglaubliche Angst um den Floh und war so unsagbar erleichtert, als die Entwarnung kam. DIESES Glück haben nicht alle werdenden Mamis. Manchmal machen sich Kinder auf den Weg, das Licht der Welt zu erblicken, lange bevor sie bereit dazu sind. Und selbst wenn sie stark sind und die Medizin ihnen die Unterstützung geben kann, die sie brauchen, kann eine Frühgeburt doch Spuren hinterlassen. Im Leben des Kindes, aber auch im Leben der ganzen Familie.

Sabine* ist 40, Projektmanagerin und vor allem Mama … von zwei wunderbaren, glücklichen und aufgeweckten Söhnchen im Alter von 2 und 4 Jahren. Im Eltern-Interview erzählt sie sympathisch und offen davon, wie und warum der „Frühchen-Status“ ihrer Kinder auch heute noch Einfluss auf ihre Leben nimmt.

*Sabine ist das selbstgewählte Pseudonym meiner Interview-Partnerin.

Eltern-Interview mit einer zweifachen Frühchen-Mama, die eine ganz tolle, starke Familie hat:

1. Gibt es etwas an dir, dass die Menschen in deinem Umfeld (oder auch die Gesellschaft) als „anders“ oder „besonders“ bezeichnen würden? Wenn ja, was ist es?

Ich bin zweifache Frühchen-Mutter und Mama eines Kindes mit Behinderung. Meine Söhne wurden beide deutlich vor ihrem errechneten Geburtstermin geboren und haben die ersten Wochen ihres Lebens auf der neonatologischen Intensivstation verbracht. Jonathan wurde in der 28. Schwangerschaftswoche geboren, Linus kam in der 33. Schwangerschaftswoche zur Welt. Bei der ersten Frühgeburt wurde eine Infektion als Auslöser angenommen, daher wurde eine erneute Schwangerschaft als unproblematisch eingestuft. Erst im Laufe der zweiten Schwangerschaft stellte sich heraus, dass mein Körper nicht in der Lage dazu ist, ein Kind bis zum Ende der 40. Woche auszutragen.

Mein kleiner Sohn war sehr schnell so fit, dass er nach 2,5 Wochen im Krankenhaus gesund nach Hause entlassen werden konnte. Unser Großer hingegen lag gute zweieinhalb Monate im Krankenhaus und es war zunächst nicht klar, ob er überhaupt mit uns nach Hause kommen würde. Zum Glück entwickelte sich unser kleiner Kämpfer prächtig, so dass er vier Wochen vor seinem eigentlichen Entbindungstermin mit uns nach Hause durfte. Zwar diagnostizierten die Ärzte im Krankenhaus eine Hirnblutung und kleine Zysten im Gehirn, gingen aber davon aus, dass beides keine Konsequenzen haben würde.

Als Jonathan etwa 18 Monate alt war und immer noch nicht richtig krabbeln und sitzen konnte, kam dann die Diagnose „spastische Cerebralparese“– ihr Kind wird wahrscheinlich niemals richtig laufen können.

2. Welche Reaktionen erntest du dafür, dass du bzw. ihr in einigen Punkten von der „offiziellen“ Norm abweicht?

Unverständnis und Verwunderung sind wohl die Reaktionen, die wir am häufigsten bekommen. Es fängt bei meiner immer noch wahnsinnig großen Angst an, den Kindern könnte etwas passieren und endet damit, dass ich Spielplatzbesuche nicht besonders mag. Für ein kleines Extremfrühchen ist eine stinknormale Magendarmgrippe mitunter lebensbedrohlich und ein Atemwegsinfekt führt oft ins Krankenhaus. Die Angst davor abzulegen, dass deinem Kind etwas zustoßen kann, dass es stirbt … dass ist wahrscheinlich eine Lebensaufgabe. Gerade jetzt, während der Corona-Pandemie, stehe ich deshalb oft vor scheinbar unlösbaren Aufgaben. „Kita? Ja oder nein?“ – „Ist ein Play Date ok?“ – „Was passiert, wenn meine Kinder sich anstecken, am Ende vielleicht sogar wieder auf der Intensivstation beatmet werden müssen? Kann ich das riskieren, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario extrem gering ist?“

Diese Gedanken können wahrscheinlich die meisten nicht nachvollziehen und halten mich für überspannt und zu vorsichtig. Wenn man erleben musste, wie das eigene Kind beatmet und scheinbar unerreichbar in einem Inkubator sein muss, um zu leben, dann sind die Intensivstation und lange Krankenhausaufenthalte immer eine vorstellbare Möglichkeit, selbst bei einer banalen Magen-Darmgrippe.

Mit einem Kind zu leben, dass nicht ohne Hilfsmittel laufen kann, ist dann die andere Herausforderung. Treffen wir Leute, die uns noch nicht kennen, sind wir den ewig gleichen Fragen ausgesetzt: „Kann der denn nicht laufen?“ – „Was hat der denn?“ Gerne kommen auch Mitleidsbekundungen, die oft schmerzhaft sind, auch wenn sie wahrscheinlich nett gemeint sind.
Anfangs habe ich sehr offen unsere Geschichte erzählt. Inzwischen frage ich mich, ob das für Jonathan ok ist. Deshalb gehe ich dazu über, lediglich das sichtbare zu bestätigen. Er kann nur mit Hilfsmittel laufen. Ende der Geschichte.
Es macht mich sehr traurig, dass Jonathan oft nur auf seine Gehbehinderung reduziert wird. Ich sehe einen witzigen, charmanten und sehr schlauen kleinen Jungen, der zudem noch wunderschön ist. Er ist ein ganz normales Kind, das zum Laufen einen Rollator braucht.
Wer mehr wissen möchte, darf sich gerne mit Joni befreunden und ihn kennenlernen, ich kann mit großer Überzeugung sagen: Es lohnt sich! Er ist super!

3. Welchen Einfluss hat das auf dein Leben … als Individuum, aber auch als Frau und Mama?

Ich bin sehr ängstlich geworden, aber auch eine absolute Kämpfernatur. Wir müssen uns für alles mehr anstrengen und haben leider kaum Hilfe dabei. Die Großeltern sind zu krank, die Paten zu weit weg und die Kita leider zu oft wegen Personalmangel geschlossen. Also regeln mein Mann und ich alles. Ich bin stolz darauf, dass wir es schaffen oft beide Kinder neben der Arbeit zu betreuen. Wir machen die Physiotherapie zum Teil zu Hause und fördern Jonathan so gut es geht. Vieles, was für uns ganz leicht aussieht, ist für ein Kind mit einer motorischen Einschränkung harte Arbeit. Dazu kommen etliche Termine beim Arzt, im Kinderneurologischen Zentrum, betteln um einen Platz im Vorzeige- Therapieprogram, der Kampf um Hilfsmittel- eine lange, manchmal unendlich wirkende To-do Liste.

Gleichzeitig ist es uns natürlich wichtig, dass der kleine Bruder nicht zu kurz kommt. Ein kleiner, quirliger sehr agiler Junge, hat ganz andere Bedürfnisse, die jedoch nicht weniger wichtig sind.
Oft bleiben wir Eltern dabei auf der Strecke. Sport, Freunde treffen und Abende zu zweit sind rar. Unser letzter „romantischer“ Abend zu zweit diente der Überlegung, ob wir Jonathan und uns als Familie eine neurologische Operation zumuten können.

Betrachte ich unser Leben, unsere außergewöhnliche Belastung, dann bemerke ich, dass ich oft wenig Verständnis für andere, scheinbar ganz normale Familien habe. Mütter, die motzen, zu selten zum Pilates zu können, die sich beklagen, dass das Kind mal wieder nicht bei Oma übernachten kann, die sich mit einem gesunden Kind überfordert fühlen, wenn die Kita sich einen Konzepttag erlaubt und das Kind mal außer der Reihe zuhause bleiben muss. Ich weiß, dass ist nicht fair, aber ich beneide sie einerseits um diese Probleme, von denen ich nur träumen kann und denke andrerseits: „Sei doch verdammt noch mal dankbar für dein Glück und hör auf zu meckern.“
Und dann treffe ich die Mütter von Kindern, die deutlich schwerer betroffen sind als mein Sohn, und schäme mich für meine Gedanken. Uns geht es doch eigentlich gut und ich bin dankbar dafür.
Ich hätte nie gedacht, dass ich soviel aushalten kann. Zugleich war ich aber auch noch nie so glücklich über kleine Dinge.

4. Was für eine Art Mama bist du? Was liebst du besonders an dieser Rolle? Was nicht so? ;)

Ich glaube meine Kinder sind zufrieden mit mir als Mama. An manchen Stellen könnte ich strenger sein, an anderen lockerer. In Summe bin ich aber zufrieden mit mir in meiner Mutterrolle.
Ich liebe es, dass meine Kinder mich genauso sehr lieben wie ich sie. Das Mama immer der sichere Hafen ist und wir trotz der harten ersten Zeit, in der wenig Raum zum Kennenlernen war, ein sehr enges und inniges Verhältnis haben. Meine Jungs sind das Beste was mir passieren konnte, daran gibt es keinen Zweifel.

Ich mag keine guten Mutti-Ratschläge, Spielplatztreffen, Kettenbriefe, Kindergeburtstage und den Mutti-Klüngel in der Kita. Ich bleibe ich und das möchte ich nicht ändern. Unsere Geschichte ist anders, deswegen treffe ich andere Entscheidungen und es wäre ein Traum, wenn es dafür weniger Tipps und mehr Verständnis gäbe. So suche ich mir heute sehr genau aus, mit wem ich mich befreunde und fahre damit wirklich gut.

5. Was wünschst du dir am meisten für deine Zukunft? Und was für die deiner Kinder?

Ich habe eigentlich nur den Wunsch, dass wir alle glücklich und gesund sind, und dass wir die richtigen Weichen dafür stellen. Meine Jungs sollen offene und selbstbewusste Menschen sein, die tolerant auf andere zugehen. Wenn wir das schaffen, bin ich sehr zufrieden und habe einen guten Job gemacht! J

 

Liebe Sabine, ich danke dir für dieses wirklich tolle Interview und wünsche dir und deiner Familie für die Zukunft nur das Beste! <3

Nochmal zur Erinnerung, warum ich diese tolle Interview-Reihe gestartet habe: Ob wir gute oder schlechte Eltern sind, hängt nur davon ab, ob wir aufgrund unserer innigen Liebe zu unseren Kindern immer darum bemüht sind, die besten Mamis und Papis zu sein, die wir sein KÖNNEN. Nicht mehr und nicht weniger. Das eint uns! Und genau DAS möchte ich mit dieser Interview-Reihe zeigen – um der Chance willen, mehr übereinander und unterschiedliche Lebensmodelle oder Persönlichkeiten zu erfahren. Weil ich das unheimlich toll und spannend finde und ihr doch sicher auch?! Deshalb freue mich sehr, wenn sich weiterhin viele melden (mit einer Mail an hallo@laecheln-und-winken.com), um mitzumachen und etwas von sich zu erzählen.

PS: Wie immer freue ich mich, wenn ihr diesen Text teilt! Danke! <3

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2 Kommentare für “Eltern-Interview: Zwei Frühchen, zwei unterschiedliche Verläufe – eine starke Familie.

  1. Ich kann deine Sorgen so sehr verstehen. Auch unser Sohn wurde in der 28. Woche geboren und leidet unter einer schweren chronischen Erkrankung. Seit diesen Tag ist diese unbändige Angst unser täglicher Begleiter- manchmal ganz deutlich zu spüren wie in diesen Zeiten, an anderen Tagen weit weg. Aber dennoch immer präsent sobald etwas anders scheint als „normal“. Sie macht uns Mürbe- denn man will doch nur „Normalität“ leben. Ich habe auch aufgehört mich vor anderen zu erklären, denn auch gut gemeintes Mitleid hilft nicht weiter. Es gibt nur eines was zählt: für unsere Jungs müssen wir am Ende stark bleiben- unser Alltag ist ihre Kindheit.
    Wir wünschen euch ganz viel Kraft für euren weiteren Weg und denkt daran, so wie ihr es macht, macht ihr es richtig.

  2. Liebe Sabine, danke für deine sehr erdenden Worte. Du hast eine total angenehme Art die Dinge zu benennen. Ich wünsche Euch alles Gutue!
    Alex aus Kiel