Hochbegabung
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Eltern-Interview: Hochbegabung – wenn das Kind „wirklich“ weit ist für sein Alter

Ich denke, so ziemlich jede Mutter und jeder Vater hat folgenden Satz mindestens schon einmal gehört oder sogar selbst gesagt: „Oh … ja … das Kind ist eben total weit für sein Alter.“ Ich persönlich sage es sehr gerne im Scherz, wenn einer meiner Sprösslinge mal wieder vor Publikum Leberwurst-Brot im Apfelsaft auflöst und das Gebräu dann schmatzend trinkt, weinend den Schnuller sucht, obwohl er wie gefühlt immer zwischen den Lippen klemmt oder auch mit fast sieben noch Popel isst und das ganz köstlich findet.
Den meisten Eltern stellen sich allerdings längst die Nackenhaare hoch, wenn sie diesen Satz hören, denn schon lange bedeutet er nicht mehr nur, dass ein kleiner Floh irgendetwas schon voll gut kann und alle mächtig stolz auf den Fratz sind. Sondern er ist vielmehr der Inbegriff des stetigen Kinder-Leistungs-Vergleiches, der uns alle nervt, stresst und den völlig bescheuerten Druck erhöht, dass unser Kind in irgendetwas besonders gut und schnell und vor allem besser als alle anderen Kinder sein müsste, um „besonders“ zu sein. Dabei sind sie das doch eh alle … besondere kleine Individuen, die wir mehr lieben als unser eigenes Leben und die ALLE ihren ganz individuellen Weg gehen werden. Und wir Eltern sind in der „besonderen“ Situation, diesen Weg begleiten zu dürfen. Ich meine … wie viel besonderer muss es denn sein? Und ist das überhaupt so erstrebenswert, wenn das Kind wirklich „weit ist für sein Alter“ … womöglich weiter ist als manch ein Erwachsener. Oder sogar weiter als DIE MEISTEN Erwachsenen? Was ist, wenn sich herausstellt, dass der Zwerg, den man da an der Hand hat, TATSÄCHLICH besondere Fähigkeiten aufweist, die die anderen Kinder nicht haben? Zum Beispiel in Form einer Hochbegabung, die am Genie-Status kratzt? Was genau bedeutet das für ein Kind … und auch für die Familie?

Ich muss gestehen: Ich hatte schlicht keine Ahnung. Natürlich habe ich mir schon vor ihrer Geburt gewünscht, dass meine Kinder clever sein werden. Und es macht mich glücklich, dass sich dieser Wunsch offenbar erfüllt hat (soweit ich das aktuell beurteilen kann) … auch wenn ich durchaus finde, sie setzen ihre Cleverness viel zu oft GEGEN mich ein. ;) Eine Hochbegabung ist aber nochmal ein ganz anderes Paar Schuhe, dass ja auch erst einmal richtig benannt bzw. erkannt werden muss. Und dann nimmt eine echte Hochbegabung natürlich Einfluss auf den Familienalltag und ggf. sogar auf die Sozial-Kontakte. Denn wie gesagt: Dieser ständige Kinder-Leistungs-Vergleich hat uns alle mürbe gemacht und kritisch … auch jenen gegenüber, deren Kinder wirklich in etwas oder sogar schlicht in Allem die Nase vorn haben.

Als Bianca mir das erste Mal schrieb, war ich sofort angefixt. Sie erzählte mir in einer Nachricht, dass ihre Tochter hochbegabt sei (ihr jüngerer Sohn wahrscheinlich auch, er wurde jedoch bisher nicht getestet) und sie sehr gerne mal etwas mehr darüber erzählen wollen würde, denn viele wüssten gar nicht, was genau so eine Hochbegabung alles mit sich bringen würde. Und das konnte ich nur bestätigen … ICH nämlich auch nicht. Also sagte ich sofort zu. Und nun freue ich mich, dass es ein so umfang- und aufschlussreiches Interview geworden ist, weil sich Bianca wirklich Zeit dafür genommen hat. <3

1. Liebe Bianca, magst du dich und deine Familie vielleicht erst einmal kurz vorstellen?

„Hallo Anke, gerne. Unsere Familie wohnt irgendwo zwischen München und den Bergen, da wo alle gerne Urlaub machen :-). Dazu gehören mein Mann, meine 8-Jährige Tochter Leona und mein 3-Jähriger Sohn Benjamin. Und nicht zu vergessen natürlich unsere zwei Chef-Katzen Bella und Nala.“

2. „Oh, er/sie ist aber schon weit für sein/ihr Alter“, sagen und hören Eltern ja oft, wenn Kinder untereinander „verglichen“ werden, obwohl man das ja eigentlich nicht soll – aber es passiert meist ja doch irgendwie, dass man durch den Vergleich mit anderen Kindern erkennt, dass das eigene irgendwo einen besonderen Schwerpunkt hat oder eben auch nicht. War sowas bei euch auch der erste Hinweis?

„Ja definitiv. Und gleichzeitig auch das größte Hemmnis, weil man einfach nicht in jeder Diskussion als Angeber rüberkommen will, zumindest bin ich nicht der Typ, der gerne prahlt. Aber ja: seit der Geburt war da dieses intelligente Funkeln in den Augen beider Kinder und in direkten Vergleichen „gewinnen“ sie eigentlich immer. Irgendwann habe ich dann etwas zum Thema Hochbegabung in einer Zeitung gelesen und die Puzzleteile sind an den richtigen Ort gerutscht. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass das viel erklären könnte. Da war die Maus ein Vorschulkind.“

3. Wer kam als erstes auf die Idee, dass eine Hochbegabung vorliegen könnte?

„Tatsächlich ich, aber nur als vage Vermutung. Aber ausgesprochen hat es die Dame beim Einschulungstest im Gesundheitsamt. Nachdem Leo da durch galoppiert ist, hat sie mich auf die Seite genommen und mir geraten, Leo testen zu lassen.“

4. Wie verlief euer Weg vom ersten „Verdacht“ bis zum Ergebnis bzw. der Bestätigung, dass euer Floh einen deutlich höheren IQ hat als die meisten anderen?

„Im Anschluss an den Einschulungstest haben wir über den Kinderarzt eine Überweisung zur Testung erhalten. Im SPZ (Sozialpädagogisches Zentrum) wurden dann bei zwei Terminen verschiedene Tests durchgeführt. Alles sehr spielerisch und vergleichbar mit den U-Untersuchungen. Also inklusive Gesundheitscheck, Arzt-Gespräch aber auch Tests mit Sprachverständnis, Logik, Knobelaufgaben und Merkübungen. Da mussten die Eltern draußen bleiben, während die Psychologin getestet hat.

Zwei Wochen später gab es dann eine Besprechung der Testergebnisse. Einmal ein Gesundheits- und Psychologiegutachten und dann eben auch die IQ-Werten in 4 Bereichen wie z.B. Arbeitsgedächtnis. Am Schluss ergibt sich daraus ein Gesamt-IQ.
Ganz oft haben Kinder dann z.B. einen super Wert im mathematischen Bereich, aber Probleme in der Sprache.

Leo hat in allen 4 Bereichen überdurchschnittliche Werte und insgesamt einen IQ von 139. Anscheinend gilt man ab 140 als Genie, also gerade nochmal Glück gehabt :-). Nein, im Ernst. Mir war irgendwie klar, das gute Werte rauskommen. Diese hohe Zahl hat mich aber schon kurz geschockt.“

5. Welche (positiven, aber auch negativen) Auswirkungen hat das auf euer Leben, auf euren Alltag und vielleicht auch auf eure Freundschaften mit anderen Familien?

„Zuerst einmal muss man sagen, dass Leos größte Stärke ihre Sozialkompetenz ist. Daher hat sie einen super großen Freundeskreis und ist extrem pflegeleicht. Da gibt es sicherlich auch viele Kinder, die dem Klischee des Hyperaktiven Nerd‘s entsprechen und größere Probleme haben. Laut der Psychologin wird es eher eine Herausforderung, dass sie später mal anfälliger für Krankheiten wie Magersucht sein wird, da sie sich selbst einen extremen Perfektionszwang auferlegt.“

6. Wann kann man Kinder frühestens testen und an wen sollte man sich wenden, wenn man eine Hochbegabung vermutet?

„Da bin ich tatsächlich überfragt. Es gibt bestimmt schon Tests ab Babyalter, aber Sinn macht es (glaube ich) vor der Einschulung. Ich würde immer zum Kinderarzt gehen. Bei uns wurde auch alles von der Krankenkasse gezahlt. Habe auch schon von privaten Instituten gehört, die die Eltern über den Tisch ziehen.“

7. Garantiert wirst du das auch mega oft gefragt: Bist auch DU hochbegabt und/oder dein Mann? Ist eine Hochbegabung also erblich?

„Der Bruder meines Mannes ist Hochbegabt. Ich würde mal sagen, wir zwei sind nicht doof, aber auch nicht so schlau wie unsere Maus. Getestet sind wir allerdings nicht. Soviel ich gelesen habe, ist es eine Mischung aus Genen und Lebensumstände, aber da streiten sich wohl wie Wissenschaftler.“

8. Wie sagt man einem doch eigentlich noch recht kleinen Kind, dass es schlauer ist bzw. einen deutlich höheren IQ hat als andere?

„Die Psychologin hat da zwei sehr gute Beispiele genannt. Für mich das prägendste:

Hochbegabte Kinder haben einen Ferrari im Kopf. Viel schneller und viel mehr Power. Und trotzdem müssen sie sich an die Verkehrsregeln halten und Rücksicht auf langsamere Autos nehmen.

Man muss nämlich auch sehen, dass Leo natürlich erst verstehen musste, dass die Kinder um sie rum, nicht in 0,0001 Sekunden die komplette Situation durchdacht haben. Und sich daran erinnern können, wo sie mit drei im Urlaub eine Muschel gesammelt haben, die sie jetzt gerade nicht mehr finden. Das kann auch belastend sein.“

9. Kannst du ein bisschen mehr von deiner Tochter erzählen … wie äußert sich die Hochbegabung in ihrem und eurem Alltag?

„Ganz wichtig, aber manchmal schwer zu begreifen oder sich zu merken: Leos Kopf ist zwar auf dem Stand eines Teenagers, der es ihr ermöglichen würde, locker die Hausaufgaben ihrer 5 Jahre älteren Cousine zu verstehen. Aber ihr Herz ist trotzdem noch das einer 8-jährigen ist. Wenn also irgendwo ein Vulkan ausbricht und sie die Bilder sieht, versteht ihr Kopf sämtliche wissenschaftliche Szenarien wie es dazu kam. Trotzdem muss sie die Bilder der leidenden Leute verkraften und mit uns verarbeiten.

In der Schule ist es so, dass sie die Klasse überspringen könnte, aber nicht will, weil ihr die Freundinnen so wichtig sind. Allerdings plant sie seit der ersten Klasse ihre Karriere als Meeresbiologin inkl. Studienweg. Ich glaube, dass sich die wenigsten Erstklässler so intensiv wie sie mit dem bayerischen Schulsystem auseinandersetzen. ;)

In der Klasse darf sie jederzeit lesen, wenn sie sich langweilt, sogar auf dem Kindle, aber meistens hilft sie den schwächeren Schülern und erklärt ihnen vor der Tür nochmal von Kind zu Kind den Stoff. Da ist mir wichtig, dass sie keinen „Nerd“-Stempel bekommt, aber anscheinend finden es die anderen Kinder super. Sie ist auch Klassensprecherin und liebt es Projekte zu organisieren oder Reden vor der ganzen Schule zu halten.

Zu Hause verschlingt sie meistens am Tag zwischen 100- und 200 Seiten Fantasy-Romane für Teenager. Harry Potter hatte sie in der 2. Klasse nach 4 Monaten komplett durch. Trotzdem ist es uns wichtig, dass ihr zum Beispiel auch HipHop-Tanzen Spaß macht, damit sie nicht zu sehr verkopft…

Für die Zukunft wünsche ich ihr einfach, dass sie so geliebt wird, wie sie ist. Sich nicht alles zu sehr zu Herzen nimmt und einem Job findet, der sie glücklich macht. Egal ob als Professorin, Anwältin oder Verkäuferin im Supermarkt.“

10. Und zum Schluss: Du hast mir erzählt, dass du vermutest, dass auch dein Söhnchen eine Hochbegabung haben könnte? Wie ist bei ihm der aktuelle Stand?

„Mein 3-jähriger ist noch nicht getestet, aber ganz ehrlich: die Gemeinsamkeiten sind schon sehr deutlich. Die Intelligenz, der Hang zum Diskutieren, das Gedächtnis, etc. … ich denke, dass wir da nochmal ein HBchen heran ziehen. Benny ist allerdings einfach wild und viel energiegeladener. Was uns die Leo mit dem Kopf an Kraft kostet, ist es der Benny körperlich. Als Beispiel: Wenn wir am Strand spazieren gehen im Urlaub, gibt es sicher Kinder, die einfach balancieren oder bisschen mit dem Wasser spielen. Leo will permanent Rechenaufgaben gestellt bekommen, weil ihrem Kopf sonst langweilig ist, während Benny abhaut, weil er irgendwo ein Abenteuer erleben will und auf Steine klettern möchte. Auf Dauer, also wirklich rund um die Uhr ohne Stop-Taste, ist das nochmal ein Stück kräftezehrender als bei den Kindern aus unserem Freundeskreis.
Ruhe ist nur, wenn bei beiden der Kopf beschäftigt ist. Drum liebt es unserer 3-jähriger die lateinischen Namen von ungefähr 100 Dinos aufzuzählen. Und wehe die Mama spricht einen davon nicht korrekt aus :D.

Der Kinderarzt meinte, dass Benny einfach deutliche Grenzen braucht und möglichst dreimal pro Woche Sport. Wobei das nichts mit hyperaktiv zu tun hat. Denn er konzentriert sich und ist nicht zappelig, sondern will einfach nicht eingeengt werden. Dazu kommt noch, dass er auch seine Emotionen viel stärker spürt; es ist also ein Riesen-Drama, wenn der Fruchtzwerg nicht von ihm, sondern von mir geöffnet wurde. Und auch die Wutanfälle sind schon krass. Das Abenteuer geht also gerade erst los :-).“

 

Tja, also ich für meinen Teil habe dieses Interview wirklich mit Spannung geführt bzw. gelesen und hoffe, dass uns Bianca ein kleines bisschen auf dem Laufenden hält, wie es mit Leo weitergeht und uns auch erzählt, ob ihr kleiner Bruder tatsächlich in ihre IQ-Fußstapfen treten wird. Würde ich nämlich jetzt gerade reflexartig in den Kinder-Leistungs-Vergleich stolpern, würde ich durchaus ganz starke Parallelen zu meinem Krümel und den meisten Kids in diesem Alter sehen, ABER … und deshalb ist diese Vergleicherei schlicht immer mit großer Vorsicht zu genießen … ich KENNE den Kleinen von Bianca gar nicht. Ich habe nur ein paar Sätze über ihn und seine Schwester gelesen und nur eine Handvoll Beispiele bekommen für sein Verhalten, das wie bei allen Kindern in Wahrheit unendlich viele Facetten hat.
Fakt ist: Man KANN kein Kind, kein Individuum im „Vorbeigehen“ beurteilen. Ob aufgrund von ein paar Zeilen oder auch weniger Momente auf dem Spielplatz. Man kann es nicht. Und man sollte es auch nicht versuchen. Schon gar nicht, um sich oder die Stöpsel zu „messen“ oder einen Wettkampf aus der Elternschaft zu machen. ABER nachfragen, kennenlernen und mit echtem Interesse aneinander herantreten – DAS geht. Und macht echt Freude.

Danke an dich, Bianca, für deine Geschichte! :-*

 

PS: Wie immer freue ich mich, wenn ihr diesen Beitrag teilt <3

 

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3 Kommentare für “Eltern-Interview: Hochbegabung – wenn das Kind „wirklich“ weit ist für sein Alter

  1. Danke für diesen Beitrag. Einiges kam mir bekannt vor. Unser Großer ist 4. Hochbegabung und Hochsensibilität liegen in der Familie. Die Testungen wären laut Psychologin ab seinem Alter möglich, sinnvoll aber erst ab ca. 6 Jahren. Ich liebe den kleinen Schlaukopf so sehr, auch, weil er lustig und liebevoll und sozial ist und und und. Aber Hochbegabung wird schnell zur Bürde in einer Stadt, in der es kaum Anlaufstellen gibt und wo sich Erwachsene durch solche Kinder eher infrage gestellt sehen, als sie zu begleiten. Ich merke, wie oft dem Spatz mit persönlichen Befindlichkeiten begegnet wird.

  2. Hi Anke,
    Ich bin mal so frei dich zu duzen, da ich ein bisschen das Gefühk habe, dich zu kennen. Ich folge dir schon eine Weile aif Instagram und lese öfter deine Beiträge hier. Ich bin mit 16 aus ganz anderen Gründen getestet worden, meine beiden jüngeren Brüder auch. Wir haben alle drei etwas andere Schwerpunkte und mich hat dieser Test erleichtert und teils auch belastet. Wir drei sind alle überdurchschnittlich intelligent und da unsre Mitter 2016 gestorben ist, sind wir auch “sehr erwachsen für unser Alter“ , auch wenn der Spruch ab und an nervt.
    Deine Texte sind wirklich toll und wenn du möchtest, würde ich eine Kleinigkeit von mir und meinen Brüdern erzählen können, zum Thema Hochbegabung. Ich möchte mich jedoch keinesfalls aufdrängen!
    Ganz liebe Grüße ,
    Pauline